Keine Ersatzvornahme vor Abnahme – nunmehr auch bei Vereinbarung der VOB/B!
Bei fast jedem Bauvorhaben gibt es in der Praxis das Problem, dass sich Mängel bereits lange vor der Abnahme zeigen, jedoch grundsätzlich der Auftragnehmer die Freiheit hat, bis zur Abnahme zu planen, wann er was und auf welche Weise herstellt, also auch, wann er seine Mängel beseitigt. Vor diesem Hintergrund ist es schwierig, vor Abnahme die Baufirma dazu zu zwingen, bereits in einem frühen Stadium der Bauarbeiten Mängel zu beseitigen. Dies ist umso dramatischer, da die Mängel oft später nicht mehr vernünftig beseitigt werden können und der Auftraggeber somit oftmals sehenden Auges in die Mangelhaftigkeit läuft.
Bislang war beim VOB-Vertrag möglich, bereits vor Abnahme eine Frist zur Beseitigung bereits festgestellter Mängel zu setzen und nach Fristablauf eine zweite Nachfrist mit Kündigungsandrohung. Nach Ablauf dieser zweiten Frist konnte dann der Auftrag entzogen und die Mängel im Wege der Ersatzvornahme bereits in diesem frühen Stadium beseitigt werden.
Die beschriebene Möglichkeit des Auftragsentzuges und der Ersatzvornahme vor Abnahme hat der BGH nunmehr mit Urteil vom 19.01.2023 (Az.: VII ZR 34/20) erheblich eingeschränkt. Diese Einschränkung betrifft Fälle, in denen die VOB/B nicht als Ganzes vereinbart und der Auftraggeber Verwender ist. Diese Kündigungsmöglichkeit, die dem Auftraggeber die Ersatzvornahme vor Abnahme ermöglichte, benachteiligt den Auftragnehmer unangemessen im Sinne von § 307 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB, weil sie die Kündigung schon bei Vorliegen von Bagatellmängeln ermöglicht, was einen Wertungswiderspruch zu den gesetzlichen Kündigungstatbeständen darstellt.
In dem der Entscheidung zugrundliegenden Sachverhalt hat der Auftraggeber wegen Mängeln im Wert von ca. 6.000 EUR einen Bauvertrag mit einem Volumen von mehreren Millionen gekündigt. Mit seinem Urteil hat der BGH die Kündigungsregelung in § 4 Nr. 7 S. 3 i.V.m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 S. 1 Var. 1 VOB/B (2002)¹ in Fälle, in denen die VOB/B nicht als Ganzes vereinbart ist und der Auftraggeber Verwender ist, für unwirksam erklärt. Diese Kündigungsmöglichkeit benachteiligt den Auftragnehmer unangemessen. Damit ist nunmehr die Möglichkeit der Ersatzvornahme vor Abnahme, die seit der Grundsatzentscheidung des BGH vom 19.01.2017 (Az.: VII ZR 301/13) bei einem BGB-Werkvertrag nicht mehr möglich ist, auch im Anwendungsbereich der VOB/B erheblich eingeschränkt.
Nach § 4 Nr. 7 S. 3 i.V.m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 S. 1 Var. 1 VOB/B (2002) ist es dem Auftraggeber möglich, nach Setzung zweier angemessener Fristen (die zweite Frist verbunden mit einer Kündigungsandrohung) den Vertrag mit dem Auftragnehmer zu kündigen und die zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Mängel im Wege der Ersatzvornahme auf Kosten des Auftragnehmers durch ein Drittunternehmen zu beseitigen. Ist die VOB/B nicht als Ganzes (d.h. mit inhaltlichen Abweichungen) vereinbart und ist der Auftraggeber Verwender, greift die Privilegierung des § 310 Abs. 1 S. 3 BGB nicht, sodass die einzelnen AGB-Klauseln der Inhaltskontrolle unterliegen. Nach dem Grundsatz des § 305c Abs. 2 BGB gehen Zweifel bei der Auslegung zu Lasten des Verwenders, wobei die kundenfeindlichste Auslegung zu Grunde zu legen ist (vgl. BGH, Urteil vom 12.05.2016 – VII ZR 171/15 Rn. 42). Bei kundenfeindlichster Auslegung ermöglicht diese Kündigungsmöglichkeit den Auftragsentzug auch bei geringfügigen und unbedeutenden Vertragswidrigkeiten und/oder Mängeln (= nicht vertragsgemäße Leistungen), weshalb schon vor der Entscheidung ein Großteil der Literatur von der Unwirksamkeit des § 4 Nr. 7 S. 3 VOB/B (2002)² ausgegangen ist. Es liegt ein Wertungswiderspruchs zu den gesetzlich angeordneten Fällen einer außerordentlichen Kündigung eines Werkvertrages vor, da die Kündigungsmöglichkeit des § 4 Nr. 7 S. 3 VOB/B (2002) eine Kündigung (und in der Folge die Ersatzvornahme) schon bei Bagatellmängeln ermöglicht.
Der BGH hat in seiner Entscheidung (Rn. 44 ff.) klargestellt, dass diese Unwirksamkeit sich nur auf die Kündigungsmöglichkeit nach § 8 Nr. 3 Abs. 1 S. 1 VOB/B (2002)³ bezieht, soweit die Bestimmung auf § 4 Nr. 7 VOB/B (2002)⁴ rückbezogen ist. Weiter wird klargestellt, dass eine aufgrund dieser Kündigungsmöglichkeit ausgesprochene Kündigung gegebenenfalls auf einen anderen Kündigungsgrund gestützt werden kann, sodass eine solche Kündigung im Ergebnis doch noch wirksam sein kann.
Für bereits auf dieser Grundlage ausgesprochenen Kündigungen wird zeitnah zu prüfen sein, ob der Auftraggeber Verwender ist und ob inhaltliche Abweichungen von der VOB/B vorliegen. Sollte dies der Fall sein, müsste in einem zweiten Schritt geprüft werden, ob die Kündigung noch auf eine andere Kündigungsmöglichkeit gestützt werden kann. Sollte dies nicht der Fall sein, ist die Kündigung unwirksam mit der Folge von Schadensersatzansprüchen des Vertragspartners.
Sofern aktuell eine Kündigung auf dieser Grundlage vorbereitet wird, muss zwingend geprüft werden, ob daneben noch ein weiterer Kündigungsgrund in Betracht kommt, auf den die Kündigung gestützt werden kann. Sollte dies nicht der Fall sein, muss von einer entsprechenden Kündigung unbedingt Abstand genommen werden.
Für die Zukunft bedeutet das für die Vertragsgestaltung des AG als Verwender und inhaltlichen Abweichungen von der VOB/B, dass zu § 4 Abs. 7 S. 3 i.V.m. § 8 Abs. 3 Nr. 1 Var. 1 VOB/B (2016) die Klarstellung aufgenommen werden muss, dass ein Auftragsentzug nicht schon bei geringfügigen und unbedeutenden Vertragswidrigkeiten oder Mängeln möglich ist. Hierzu beraten wir Sie gerne!
¹ Die Entscheidung ist auf § 4 Abs. 7 S. 3 i.V.m. § 8 Abs. 3 Nr. 1 Var. 1 VOB/B (2016) übertragbar.
² § 4 Abs. 7 S. 3 VOB/B (2016).
³ § 8 Abs. 3 Nr. 1 Var. 1 VOB/B (2016).
⁴ § 4 Abs. 7 S. 3 VOB/B (2016).