Anschlussentscheidung des EuGH zu den HOAI-Mindestsätzen
Mit Urteil vom 18.01.2022 (Az. C-261/20) hat der EuGH – für viele überraschend – entschieden, dass deutsche Gerichte weiterhin die europarechtswidrigen HOAI-Mindestsatzregelungen der HOAI-Fassungen 2009 und 2013 anwenden dürfen. Bereits früher hatte der EuGH entschieden, dass diese Mindestsatzregelungen gegen die Europäische Dienstleistungsrichtlinie (2006/123/EG) verstoßen. Die Bundesrepublik Deutschland hatte daraufhin – in verspäteter Umsetzung dieser Richtlinie – die Mindestsatzregelungen aus der HOAI gestrichen. Die Änderung gilt aber nur für Verträge, die ab dem 01.01.2021 geschlossen wurden oder werden. Für solche Verträge sind somit (vorbehaltlich der hierzu ausstehenden Entscheidung des BGH) auch weiterhin sog. Mindestsatz-Aufstockungsklagen grundsätzlich möglich.
Offengeblieben war, ob die Mindestsatzregelungen ungeachtet ihrer grundsätzlichen Unvereinbarkeit mit Unionsrecht noch für Verträge, die vor dem 01.01.2021 abgeschlossen wurden, fortgelten, der Planer also die Mindestsätze der HOAI gemäß den alten Fassungen verlangen kann. Mit Beschluss vom 14.05.2020 hatte der BGH dem EuGH zur Klärung die Frage vorgelegt, inwieweit bei Altverträgen das europarechtswidrige deutsche Preisrecht weiterhin angewendet werden darf.
Der EuGH hat klargestellt, dass ein nationales Gericht in einem Rechtsstreit, an dem auf Auftraggeberseite nicht die öffentliche Hand, sondern eine natürliche oder juristische Person des Privatrechts („Privatpersonen“) beteiligt ist, nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet sei, eine nationale Regelung unangewendet zu lassen, die gegen die (keine unmittelbare Wirkung entfaltende) Dienstleistungsrichtlinie verstößt (vgl. deren Art. 15 Abs. 1 Absatz 2 g) und Abs. 3)).
Wegen des Vorrangs des Unionsrechts seien die nationalen Gerichte bei einem ausschließlich zwischen Privatpersonen anhängigen Rechtsstreit grundsätzlich verpflichtet, bei der Anwendung der Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, die zur Umsetzung der in einer Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen erlassen worden sind, das gesamte nationale Recht zu berücksichtigen und es so weit wie möglich anhand von Wortlaut und Zweck der Richtlinie dahingehend auszulegen, dass das Auslegungsergebnis mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel vereinbar ist.. Dieser Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung habe jedoch bestimmte Schranken und dürfe nicht zu einer Auslegung contra legem führen, insbesondere indem die Nichtanwendung des nationalen Rechts es mit sich bringe, dass einer Privatperson eine zusätzliche Verpflichtung auferlegt bzw. ein Recht genommen würde. Genau dies wäre hier jedoch der Fall, da das zwingende Preisrecht des § 7 HOAI 2009/2013 zulasten des Architekten/Ingenieurs dann nicht mehr angewendet werden dürfte.
Die durch die verspätete Umsetzung benachteiligte Partei (also der Auftraggeber) könne die Bundesrepublik Deutschland jedoch grundsätzlich auf Ersatz eines durch die verspätete Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie (erst mit der HOAI 2021) entstandenen Schadens in Anspruch nehmen.
Ob nach unserem deutschen Recht ein Auftraggeber, der danach für vor dem 01.01.2021 geschlossene Verträge weiterhin verpflichtet ist, einen Mindestsatz zu bezahlen, obwohl ein geringeres Honorar vereinbart wurde, tatsächlich mit einem Amtshaftungsanspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland Erfolg haben würde, ist allerdings fraglich und bleibt abzuwarten.
Für die Architekten und Ingenieure ist die Entscheidung des EuGH jedenfalls günstig, da die bis zur Geltung der HOAI 2021 (vor dem 01.01.2021) abgeschlossenen Verträge weiterhin dem Mindestsatzschutz unterliegen.
Für derartige Verträge haben – bis zum Eintritt der Verjährung – sog. Mindestsatz-Aufstockungsklagen somit auch weiterhin Aussicht auf Erfolg, vorausgesetzt dass der BGH mit seiner ausstehenden Entscheidung dieser Möglichkeit nicht doch noch eine Absage erteilt.
Bleibt die Frage, wie der BGH mit diesem Urteil umgehen wird: Der BGH selbst tendierte ausweislich seiner dem EuGH vorgelegten Fragen gleichfalls dazu, auf Altverträge zwischen Personen des Privatrechts die nach deutschem Recht verbindlichen Mindestsätze anzuwenden. Dies muss aber nach Auffassung des Autors erst recht in Verträgen mit der öffentlichen Hand als Auftraggeber gelten, da dieser noch weniger schutzbedürftig ist als der private Auftraggeber (= Person des Privatrechts). Der öffentliche Auftraggeber muss sich zurechnen lassen, dass die Bundesrepublik Deutschland die Dienstleistungsrichtlinie zunächst nicht ordnungsgemäß umgesetzt hatte.
Vor diesem Hintergrund erwartet der Autor, dass der BGH – entgegen vielen Oberlandesgerichten – bei vor 2021 geschlossenen Verträgen weiter an dem Mindestpreischarakter der HOAI 2009/2013 festhalten wird, und zwar auch bei Verträgen mit der öffentlichen Hand.